Prokrastination- oder wie wir im Deutschen sagen, Aufschieberitis ist ein weit verbreitetes Phänomen. Ich kenne tatsächlich wenige bis gar keine Menschen, die nicht gern etwas vor sich her-vertrödeln. Im besten Fall bist du ok damit, dass du nicht funktionierst, wie deine To-Do Liste es von dir will. Im schlimmeren Fall setzt du noch einen oben drauf, in dem du dich selbst verurteilst und dich für einen hoffnungslosen Fall hältst, dessen Faulheit dir irgendwann all deinen Erfolg und Freude und Zugehörigkeit kosten wird (ja es kann sehr schnell sehr dramatisch werden).
Natürlich versuchen wir diesen Makel gleich zu lösen und auf den Markt gibt es ja mittlerweile viele Werke und Methoden von Produktivitäts- Gurus, die allesamt versprechen, dass du alles in deinem Leben erreichen wirst, wenn du nur dieses Problem löst und am besten schon um 4 Uhr morgens aufstehst und deine E Mail schreibst, damit du gleich in deine produktivitätssteigernde Morgenmeditation starten kannst wenn andere noch an ihrem Kaffee nippen.
Ja, das hört sich alles sehr verführerisch an. Hier kommt der einzige Haken an der ganzen Geschichte: du bist keine Maschine, deren Produktivität es zu steigern gilt und dein Unterbewusstsein ist mächtiger als du es dir vielleicht eingestehen willst
Auch wenn Produktivitäts- Tools ein wirksames Rettungsboot besonders in schwierigen Zeiten sind, halte ich sehr viel davon, das Thema von der Wurzel zu betrachten.
Der erste Schritt ist es, die Pathologisierung aus der Prokrastination zu nehmen. Jeder durchschnittliche Mensch erlebt Prokrastination. Auch wenn es sich so anfühlt, als wärst du DER EINZIGE AUF DER WELT der darunter leidet. Nein. Fast jeder. Wirklich. Vertrau mir hier als Mensch und Coach, die schon oft von diesem “Problem” gehört hat.
Ganz im Gegenteil, das Aufschieben ist eine sehr wirkungsvolle Strategie aus deinem Unterbewusstsein, die eine ganz bestimmte Agenda hat. In vielen Fällen will sie dich vor unangenehmen Gefühlen schützen: z.B. Abweisung, das Gefühl etwas nicht zu können, etwas falsch machen oder scheitern, allem was irgendwie ungewohnt ist oder einfach nur weil du das was du vor dir her schiebst nicht magst und vielleicht auch keinen größeren Sinn dahinter siehst außer irgendeiner Anweisung zu folgen.
Die Wurzel der Prokrastination
Die Wurzel liegt also im Unterbewusstsein. Prokrastination, zusammen mit seinem guten Freund, dem Perfektionismus, sind Klassiker und bekannt als Coping- Strategien, also Bewältigungsstrategien für irgendwelche unangenehmen Erfahrungen, kürzlich oder in vielen Fällen sogar weit in Kindheit und Jugendalter. Ich will hier keine Generalisierungen treffen, denn warum du oder dein Nachbar prokrastinierst, kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Aber der Anschaulichkeit halber führe ich ein paar Beispiele auf.
Nehmen wir an, du willst dich schon lange auf einen neuen Job bewerben. Aber jedes mal wenn du dich hinsetzt, fällt dir etwas besseres ein. Achja, ich muss ja noch diesen Arzttermin ausmachen. Und die Küche sieht auch schon wieder aus. Vielleicht sollte ich aber vorher noch einkaufen gehen, dass ich genug Lebensmittel im Haus hab. Vielleicht verschwinde ich aber auch in einem Wurmloch aus Katzenvideos oder stelle mir auf Spotify eine neue Playliste für konzentriertes Arbeiten zusammen.
Der Tag vergeht und ich habe immer noch keinen meiner Kontakte angeschrieben oder mein Motivationsschreiben verfasst. Das mag jetzt irgendwie blöd und selbstschädigend aussehen aber schauen wir einmal dahinter.
Vielleicht warst du irgendwann bei Wechsel von Grundschule auf eine andere Stufe der oder die Neue und wurdest deswegen von deinen Mitschülern gemobbt und nicht aufgenommen. Vielleicht waren deine ersten Jahre Berufsleben gar nicht einfach und du hast in dieser Zeit viel an dir gezweifelt. Vielleicht hast du irgendwann einen Ausbildungs- und Karrieresprung gemacht und damit viele deiner Freunde und dein gewohntes Umfeld verloren.
Nun sitzt du an deinem Schreibtisch mit dem Wunsch nach einem neuen Job, aber die Worte fließen nicht. Weil ganz unbewusst und insgeheim dein Unterbewusstsein an diese Erlebnisse denkt, mit einem Heck- No auf gar keinen Fall wollen wir das nochmal erleben. Lass uns lieber irgendwas anderes machen und das ganze hinauszögern.
Und was wir dann auf der bewussten Ebene erleben, ist das Aufschieben- Küche, Staubsaugen, Telefonate erledigen.
In vielen Fällen schwingt ein solches Erlebnis im Hintergrund. In einigen Fällen kann es einfach die Angst vor dem Unbekannten sein (unser Unterbewusstsein und Körper tendiert dazu keine neuen und ungewohnten Situationen zu mögen, ganz gleich wie toll sie sein mögen)
In sehr vielen Fällen kann es einfach auch sein, dass die Art und Weise, die wir uns auferlegen zu arbeiten, weder Spaß macht noch mein Wohlbefinden und meine Kreativität nährt. Arbeit wäre ja schließlich keine “richtige” Arbeit, wenn man es nicht zumindest ein wenig unangenehm findet.
Bessere Wege mit Prokrastination umzugehen
1 Befreunde dein Unterbewusstsein und dein Körper
Anstatt die Selbsturteile weiter hochzufahren und dich mit dem nächsten Produktivitätstool oder der Handysperre selbst zu bestrafen, weil du so ein fauler Taugenichts bist, versuch doch einmal diesen Teil liebevoll zu betrachten.
Der hat nämlich einen guten Grund für sein Verhalten. Nämlich dich vor Schmerz zu bewahren. Zum Zeitpunkt der Entstehung der Strategie schien diese Methode das beste zu sein. Auch wenn deine heutige Realität in keiner Weise die damaligen Erlebnisse bestätigt: ein Teil von dir hängt immer noch in dieser Schleife, wenn wir uns diesen Teil nicht liebevoll ansehen und re- integrieren: Aus dem Schatten und der Verurteilung zurück ins Licht des Bewusstseins und unser Wohlwollen holen.
Frag dich einfach, was es ist, was sich dieser Teil wünscht.
Vielleicht ist es Sicherheit in Beziehungen erleben. Nicht ausgelacht werden und ausgegrenzt, sondern Wertschätzung zu erfahren. Vielleicht möchte dieser Teil, dass du lernst, für dein eigenes Wohlbefinden einzustehen und lernst Grenzen zu setzen. Vielleicht will er auch einfach nur gesehen und lieb gehabt werden.
Was immer das unterliegende Bedürfnis ist, wenn du dich diesem verbindest und dafür sorgst, bin ich mir sicher, dass viele der Prokrastinations- Episoden leichter und weniger intensiv werden.
2 Schaffe ein inspirierendes und nährendes Arbeitsumfeld
Ich habe lange im new- work Umfeld gearbeitet und mich oft ernsthaft gefragt, warum wir als moderne Arbeitsgesellschaft darauf bestanden haben, solch Menschen- und kreativitätsfeindliche Umfelder zu schaffen. Sein wir doch ehrlich, das klassische Bürogebäude bietet meist wenig physischen Raum, Abwechslung, ergonomisch angemessene Arbeitsplätze. Abgesehen davon, dass es anscheinend viele Jahrzehnte in Mode war, die klassische Büroausstattung in den Farben beige, braun und weiß zu halten und es in vielen Gebäuden schon allein an der Frischluftzufuhr und der Begrünung mangelt (nehmen wir die sporadischen hydrokultur Ficus- Bäume außer acht, für die in vielen Fällen der Gärtner einmal die Woche im Büro vorbeischaut, um sie zu gießen).
Das ist nur das physische Umfeld, ganz zu schweigen von dem mentalen und emotionalen. Ich rede von linearen 8- Stunden Tagen, ellenlangen Meetings, in denen sich viele Teilnehmer fragen, wann es endlich vorbei ist. Arbeits- und Produktivitätstools, die zwar praktisch sind, aber nicht zwingend Kreativität und Neugierde anregen.
Auch wenn du in einem Umfeld bist, das vielleicht etwas unflexibler in der Gestaltung der Rahmenbedingungen erscheint, weiß ich aus eigener Erfahrung und die Arbeit mit meinen Coachees, dass doch erstaunlich viel möglich ist. Im ersten Schritt ist es aber erstmal wichtig, herauszufinden, was es denn eigentlich ist, was dir gut tut. Arbeiten im Stadt- Cafe oder in der Berghütte oder doch lieber im Co-Working-Space. Arbeiten in der Stille und Einsamkeit oder eher ein abwechslungsreicher Tag mit vielen verschiedenen Impulsen? Experimentiere mit Spaziergängen und einen kurzen Gang zur Eisdiele, um kreative Ressourcen aufzuladen und die Sonne zu genießen. Gibt es vielleicht verschiedene Räume, die für unterschiedliche Aktivitäten geeignet sind? Arbeitest du gerne in der Gruppe oder allein oder in welchem Rhythmus und zu welchen Aufgaben magst du die Abwechslung?
Wie kannst du ein wenig mehr Freude und Leichtigkeit in dem spüren, was du arbeitest? Welche Farben und Pflanzen machen dir Freude am Arbeitsplatz? Gibt es ein Ritual oder eine Gewohnheit, die dich unterstützt in dem, was du tust?
Durch experimentieren und kleine kreative Freiräume schaffen, kannst du diesen Fragen näherkommen. Im Experimentierfeld kreatives Arbeiten gibt es kein Scheitern, weil du mit jedem Versuch, der nicht funktioniert, auch eine Information gewonnen hast, was nicht für dich ist.
3 Finde heraus, worin du gut bist und was dir Spass macht
Ein einfacher und sehr naheliegender Grund für Prokrastination kann sein: du magst nicht, was du tust. Das kann auf verschiedenen Ebenen sein, z.B. inhaltlich, sachlich, du hast das Gefühl, es macht keinen Sinn.
Ich weiß nicht warum, aber aus irgendeinem Grund scheinen wir es ganz toll zu finden, Dinge zu tun, die wir eigentlich nicht wollen. Zum Beispiel aus Pflichtgefühl. Aus einem “das muss so” oder “geht nicht anders” oder “wer soll das denn sonst machen” oder weil wir Deutschen allgemein der Meinung sind, dass Arbeit ein wenig wehtun muss. Dass die Redewendungen “Das Leben ist kein Ponyhof” und “erst die Arbeit, dann das Vergnügen” es so weit in unseren Sprachgebrauch geschafft haben, hat einen Grund. Außerdem wurde mir mehrmals in meinem Werdegang versichert, angefangen als ich vom Kindergarten in die Schule kam, dass jetzt “der Ernst des Lebens” anfängt.
Auch hier gibt es überraschend viel Spielraum, vorausgesetzt man ist erstmal bereit den Grip um diese Glaubens-Konstrukte loszulassen, die wir manchmal pflegen und verteidigen, als wären wir Gedeih und Verderb ausgesetzt.
Fangen wir an, das Ganze zu hinterfragen, gibt es ein wenig Raum für die Auseinandersetzung: Was will ich eigentlich tun? Was gibt mir Sinn? Worin bin ich gut? Worin liegen meine Talente?
Wie viele Menschen habe ich auch unglaublich viel Zeit in meiner Inkompetenz- Zone verbracht. Was nicht nur mühselig, sondern auch unglaublich ermüdend ist. Kein Wunder, dass da prokrastiniert wird. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Talenten, oder wie Gay Hendricks, einer meiner Lieblings Autoren in seinen Buch the Big Leap beschreibt, mit deinem Genius ist eine Kontemplation, die wirklich jede einzelne Minute wert ist. Da dieses Thema ein eigenes für bestimmt mehrere Podcasts und Artikel ist, verbleibe ich hier bei dem Verweis auf das Buch und eine Ankündigung für weitere Artikel zu dem Thema.
4 Genieße das Faul sein
Ok, was ich hier sage ist mittelmäßig bis schwer konfrontativ für die deutsche Seele. Und auch wenn du Angst hast, dass deine preußisch- alemannischen Vorfahren in deinen Träumen heimsuchen werden, hör mir für eine Minute lang zu.
Faul sein ist eine Tugend. Faul sein ist wichtig, dass dein Gehirn Pause bekommt und wichtige neuronale Netze knüpft, Information verarbeitet, verbindet und mit neuen und genialen Einfällen und Gedanken beschenkt. Sicher kennst du das Phänomen, dass einem unter der Dusche manchmal die besten Einfälle kommen, oder beim Spazieren. Genau das passiert hier. Du gibst deinem Körper Zeit zu integrieren und auch mal Dinge sacken zu lassen.
Wenn du dir bewusst Pausen und Zeit zum Faul sein nimmst, dann ist das nicht nur gut für deinen gestressten Körper und Nervensystem und eine unglaublich wichtige Investition in deine geistig- emotionale Gesundheit. Du wirst automatisch mit kreativeren Ideen und besseren Lösungsvorschlägen- ich sage schon fast überflutet.
Weil wir so wenig Pausen machen und gerne mal ein paar Ruden im Stress- Hamsterrad drehen kann es sein, dass wir uns diese Auszeit halt durch eine andere Methode holen: Prokrastinieren. Nur dass das selten so erholsam und produktiv ist wie eine richtige Pause. Aber zumindest haben wir uns vorgemacht, dass wir WIRKLICH etwas schaffen wollten und auf gar keinen Fall faul waren.
Wie wäre es also mal mit ein paar Lücken in deinem Kalender? Zeit zum Faul sein, Zeit für Müßiggang. Zeit zum Flanieren und zum Ausruhen.
5 Sei ein Partner für dein Gehirn und dein Nervensystem.
Wenn du jemand bist, der ein sogenanntes neurotypisches Gehirn hat, dann kann das mit der Prokrastination schon eine Sache sein. Es wird nochmal intensiver, wenn du eben nicht neurotypisch bist, z.B. ADHS, Neigung zum Autismus…. etc.
Wenn du zu den nicht neurotypischen Menschen gehörst, dann ist es noch wichtiger, dass du ein Partner für dein Gehirn, deine Denkstruktur und dein Nervensystem bist. Dich in irgendein Standard zu quetschen, der für andere funktioniert, kann mehr als nur frustrierend sein. In diesem Feld gibt es mittlerweile einige Pioniere, die trotz- oder sagen wir besser wegen ihrer nicht- neurotypischen Arbeitsweise echt große Arbeit machen. Eine davon ist eine geschätzte Business Coach, Simone Seol, die der Welt mit ihrer ADHS beweist, dass ADHS keine Einschränkung im Business, sondern ein kreatives Geschenk an die Welt ist. Wenn man sich denn erlaubt, nach seinen eigenen Regeln zu spielen.
Auch für neurotypische Menschen gilt: je mehr es dir möglich ist, spiele mit den Rahmenbedingungen und finde heraus, was dein Körper und Geist braucht, um kreativ gefördert zu werden. Welche Strukturen oder welche Freiheit dich darin unterstützt, deinen Genius auszudrücken und Freude bei der Arbeit zu haben.
Was dich inspiriert und was dich blockiert und was dir dabei hilft, freundlich mit dir zu sein und beherzt Dinge zu verändern, die nicht nützlich für dich sind.
In diesem Sinne, viel Spass beim kreativen Experimentieren und faul sein.
Bist du ein eher auditiver Typ? Diese Gedanken gibt es auch als gesprochene Version in meinem Podcast ( the visionary heart podcast, Folge 2: 5 bessere Wege, um mit Prokrastination umzugehen)